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Max Planck Institute for Social Anthropology

Günther Schlee 2008

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Gestern von dem Mietwagen mit Fahrer, Eshetu, der uns auch nach Debre Zeyt, zu Andrea (siehe weiter unten), nach Ongamo und später nach Gambella und Asosa bringen sollte, abholen lassen. Mit Christiane und Julia zu Derejes Eltern. Seine beiden Schwestern sind ebenfalls anwesend.

 

Karte 2: Von Addis Abeba bis zur Grenze zum Sudan

 

Inantoo adane goorat walassiis geedi lidissan a desse. Dereje abbehiis la sag us lakhanyo buujo weel magah arantiis kachiire. Saggaas la ngogotiche ayo tidah ichowka weynate. Tola on i’daaru kasta, kolosohoo abbehiche ki delle eti tehe kamallata, lakini goob gooya worrassehaas ma la kayeedo. Eti wahaa ii soo cheeko la a Christiane.

Das Wohnzimmer in dem ebenerdigen Haus mit alten Möbeln und Fotos an den Wänden macht zunächst einen etwas düsteren Eindruck. Die Fenster, übrigens geschlossen, sind im Verhältnis zum Raum nicht sehr groß. Während unseres Besuches gehen plötzlich Licht und Fernseher an. Beides war permanent eingeschaltet. Der Stromausfall ist vorbei. Christiane meint, bei urbanisierten Äthiopiern herrsche eine Art Phobie gegen alles, was mit Natur zu tun hat. Auch bei schönem Wetter sitze man lieber bei geschlossenem Fenster im Haus. Sie führt dies darauf zurück, dass man die Härten des Landlebens gerade erst zurückgelassen habe.

Der Vater von Dereje trägt, wohl wegen unseres Besuchs, Schlips und Anzug. Mit ihm kann ich mich auf Oromo unterhalten, desgleichen mit der Mutter, die jedoch gelegentlicher Erklärungen durch den Vater bedarf, der mit meinem südlichen Dialekt und meinem Akzent offenbar besser zurechtkommt. Die Geschwister von Dereje, bis auf den, der jetzt in Belgien ist, sprechen kein Oromo. Der Vater führt dies darauf zurück, dass sie in der Stadt aufgewachsen seien. Dass auch im Elternhaus nur Amharisch gesprochen wurde und Bildungsmotivation und Modernismus in damaliger Zeit, in der Oromo gar keinen politischen Status hatte, dem Amharischen ein klares Übergewicht verleihen, bleibt unausgesprochen im Hintergrund. Auf Christianes Frage, warum man denn nicht zuhause Oromo gesprochen habe, um die Kinder diese Sprache lernen zu lassen, erfolgt als Reaktion nur die Wiederholung des Hinweises, man habe in der Stadt gelebt.

Dereje hatte mir einmal erzählt, dass er auch Brüder in Amerika habe und dass sein Vater Lehrer u. a. in Gamu Gofa gewesen sei. Als ich meine Kenntnis hiervon durchblicken lasse, freut sich der Vater. Er erkundigt sich nach dem Fortschritt von Derejes Arbeit und sagt mir, Dereje sei jetzt mein Sohn. Ein Lehrer sei auch wie ein Vater.

Andere Teile des Gespräches laufen auf Amharisch, und ich verdanke das, was ich davon mitgekriegt habe, größtenteils Christianes Erklärungen. Julia erzählt von Christianes Erlebnissen mit dem "leopard skin chief", den ich auch im Februar kennen gelernt habe (Es handelt sich um Shanduk [siehe weiter unten, Eintrag vom 14. November 2001]). Dieser hat Christiane einen Messingarmreif gegeben, hat sie mit Wasser aus dem Mund besprüht und sie mit Butter eingerieben. Ein Massaker an Dinka hat er geweissagt. Er hat ihr untersagt, sich an dem Tag zu waschen. Dies hat Christiane befolgt, obwohl sie sich ziemlich geekelt hat. Ihre spätere Typhus-Erkrankung führt sie auf den Kontakt mit diesem Speichel zurück, obwohl andere Erklärungen wohl näher liegen: die abgelaufene Impfung, das nicht abgekochte Wasser, das sie getrunken hat. Schließlich hatte der "leopard skin chief" selber wohl auch gar keinen Typhus.

In der Nacht darauf hat Christiane von toten Dinka geträumt und wie ein Löwe gebrüllt. Zur Illustration beruft sie sich auf den Metro-Goldwyn-Meier-Löwen aus dem Vorspann von Hollywood-Filmen und macht dessen Schwenken des Kopfes nach.

Derejes Schwestern selber sind jetzt sehr besorgt und meinen, Christiane habe sich dem Teufel ausgeliefert. Sie solle unbedingt den Armreif ablegen. Ich zeige meinen sehr ähnlichen Armreif und erkläre, dass der von den Rendille stammt, Abzeichen einer Klanzugehörigkeit sei und eine Fluch- und Segensmacht beinhalte. Das wird aber akzeptiert. Offenbar wird mein Reif als mit legitimeren Kräften verbunden als Christianes empfunden. Christiane meint, Julia hätte all dies gar nicht erzählen sollen. Wenn Dereje hier gewesen wäre, hätte der sie gestoppt.

Geister und Besessenheit haben in der Familie eine gar nicht so weit zurückliegende Geschichte. Derejes Mutter hat früher Atete-Rituale durchgeführt, lehnt dies jetzt aber ab. Viel ist auch von Zar die Rede. Der Boran-Begriff ayaan, nach dem ich frage, scheint jedoch unbekannt.

Zu dem reichhaltigen Essen wird Taj (Honigwein) serviert. Ich lege mir schon eine Entstehungstheorie für Derejes Vorliebe für Taj zurecht, nämlich dass er aus einem Haus stamme, das man nur satt und mit Taj abgefüllt verlassen könne. Die wirklichen Zusammenhänge sind etwas anders: Dereje hat aus Deutschland angerufen und seinen Eltern erzählt, dass ich gerne Taj trinke. Die eine Schwester hat daraufhin eine Flache von dem Taj mitgebracht, den sie für ein mahaaber angesetzt hat. Das sind Betriebs-, Nachbarschafts- oder Familienfeste, die an den Tagen jeweils anderer, bestimmter Heiliger durchgeführt werden.

Weiterfahrt nach Debre Zeyt (Oromo: Bishoftu) zu Andrea, die über Instanzen der Konfliktschlichtung in der Ada’a-Region an unserem Institut promoviert (siehe inzwischen A. Nicolas 2007).

Auch Andrea erzählt von Atete. Dass es sich hierbei um eine weibliche Gottheit handele (was mein Eindruck aus der Lektüre von Paul Baxter [1979] war), ist offenbar nicht die einzige Theorie. Es kann sich nach Andrea auch ursprünglich um ein von der Frau und Mutter des Hauses durchgeführtes Ritual handeln, das parallel zum Borantica-Ritual des Mannes durchgeführt wurde und sich an denselben Gott, Waak, richtete.

Das Borantica-Ritual wird im Monat gimbot durchgeführt, gemeinschaftlich von Mann und Frau. Der Mann schlachtet ein Schaf. Bewirtung am Abend im Kraal. Kaffee und Brot wird serviert. Ein anschließender Besuch im Haus ist optional. In erster Linie scheint es sich um ein vieh-orientiertes Ritual zu handeln.

Eine andere Erklärung von Atete sei, es handele sich um einen Geist (oglia), wohl von awliya, der sich von anderen Geistern dadurch unterscheide, dass er nicht spreche. Atete-Rituale sind also Heilungsrituale, die zu einem Arrangement mit einem besitzergreifenden Geist führen. Der Fruchtbarkeitsaspekt und reproduktive Schwierigkeiten spielen eine große Rolle. Merkmal der Zugehörigkeit zum Atete-Kult ist eine Perlenkette. "Besorge dir eine Kette!" ist gleichbedeutend mit "Suche Heilung im Atete-Kult!"

Bei früheren Forschungen hat sich Andrea in einem Dorf im Umland aufgehalten, jetzt bewohnt sie aber ein Haus in Debre Zeyt selber, unweit der Durchgangsstraße, mit ihrem Mann Sven und der 3 ½-jährigen Tochter Anne. Sven möchte über ein ähnliches Thema promovieren: "Die Politik des qallu-Kultes", wobei es um Besessenheitskulte und Pilgerfahrten geht. Zurzeit ist er abwesend, weil er auf der anderen Seite des Awash, in Arsi, an einem Ort namens Farakassa ein Ritual beobachten will. Es handelt sich um eine Pilgerfahrt, zu der Leute aus allen Landesteilen kommen. Es handelt sich um einen Komplex von heiligen Orten, darunter eine Quelle, ein muslimisches Heiligengrab und eine christliche Wallfahrtstätte, die aber alle von Angehörigen der verschiedenen Religionen besucht werden.

Die Gegend hat eine engmaschige rituelle Topographie. Nicht nur der See von Bishoftu/Debre Zeyt ist heilig, sondern auch sechs nahegelegene Seen, die alle einen ebba malka (gesegneten Platz am Ufer) haben. Das gleiche gilt für viele Berge im Umland von Debre Zeyt. Der wichtigste Berg liegt im Südwesten und heißt Suqaala, im Oromo-Mund auch oft Chuqaala. Ihn kann man von der Straße aus gut sehen. Umgekehrt ist, so sagt Andrea, von seiner Spitze aus das ganze Land, einschließlich eines langen Abschnitts des Verlaufs des Awash, gut zu überblicken. Man kann sich natürlich fragen, ob das, was bei einem Berg rituelle Bedeutungen anzieht, eher die Sicht ist, die von diesem aus gewährt wird, oder der Anblick von weit her, den der Berg selber bietet, und der ihm symbolische Präsenz verleiht.

Um Debre Zeyt/Bishoftu selber leben eher an die Oromo assimilierte Leute ohne große Bedeutung im Gada-System. Ihre Genealogien sind von geringer Tiefe. Wenig westlich von hier, in Adulala am Fuße des Chuqaala, ist das bereits anders. Dort sind Gada-Amtsträger zu finden, in deren Lineages die Ämter vererbt werden. Andrea hat bereits umfangreiche Datenbanken mit genealogischen und Generationsklassen-Zugehörigkeiten angelegt. Ihr Nahziel ist, zunächst für eine Altersklassenlinie (die Boran würden das goges nennen, hier sagt man misensa) die genealogische Struktur der Ämtervererbung aufzuzeigen. Die Verknüpfung solcher Daten wiederum mit der rituellen Topographie wäre natürlich besonders interessant.