Sven (siehe Aufzeichnungen zum 29. Oktober 2001) ist heil aus Farakassa zurück. Bei unserer Rückkehr von Langano am Mittwoch hat sich Andrea gewundert, dass er noch nicht wieder in Debre Zeyt war. Heute sind die beiden zu mir nach Addis Abeba zu Besuch gekommen.
Bei der Pilgerfahrt in Farakassa waren Zehntausende von Menschen. Von der Größe her muss dieses Ereignis der Pilgerfahrt nach Annajina in Bale vergleichbar sein. Mit Annajina ist Farakassa auch durch rituelle Bedeutungen verknüpft. Es ist eine der Stationen der Sheikh Hussein-Pilger.
Die Pilgerschaft ist in die verschiedenen Gefolge charismatischer Medien gegliedert. Diese Medien treten auch zueinander in Konkurrenz. Es kommt vor, dass sich ein Besessener dem Anderen zu Füßen wirft, weil, so die Erklärung, der Geist, der vom Letzteren Besitz ergriffen hat, den des Ersteren dominiert. Es gibt viele neue Kultverbände, die mit Besessenheit und dem Arrangement mit besitzergreifenden Geistern zu tun haben, und viele gehen auch wieder ein. Sven hat sich mit dem Thema bei einem Graduiertenkolleg in Frankfurt/Oder beworben, das Wissen und Rhetorik zu Gegenstand hat. Man kann dem Thema wissenssoziologische Aspekte abgewinnen:
- Man findet bei den Gläubigen die Vorstellung, dass es im Himmel ein großes Buch gebe, in dem alles, was es gibt, niedergeschrieben ist. Es handelt sich um einen kulturspezifischen Wissensbegriff, nach dem das Wissen zwar von gewaltigem Umfang aber doch begrenzt ist, denn das Buch im Himmel ist ja von Ewigkeit zu Ewigkeit unverändert. Grade der Heiligkeit oder rituellen Führerschaft beruhen auf dem esoterischen Zugang zu unterschiedlich großen Teilen dieses Wissens;
- Durch das Aufblühen und schnelle Vergehen von Kulten kann man hier Prozesse der Variation und Selektion von Wissen an einem Gegenstand studieren, der vielleicht für die Wissensentwicklung schlechthin als Modell dienen kann. (Zu Farakassa siehe inzwischen S. Nicolas 2003; im Vergleich zu anderen Pilgerfahrten siehe Kehl-Brodogi und Schlee 2005 sowie Schlee und Kehl-Brodogi 2007)