Am Morgen begrüßt uns ein Anywaa namens Alfred. (Später höre ich, er heiße eigentlich Winfred, aber in Nachachmung von Christiane nennen ihn alle Leute Alfred.) Er war in einem Flüchtlingslager in Uganda gewesen und hat anschließend 17 Jahre in Kenia verbracht. Sogar in Wajir hat er einmal ein paar Monate gearbeitet. Er spricht gut Englisch und noch besser Swahili, außerdem neun weitere Sprachen, darunter Sudanarabisch, allerdings ohne Kenntnis der Schrift, sowie Lango, Luganda. Er arbeitet hier in einem Projekt. Ein polyglotter Helfer und Vermittler. Es wäre interessant, einmal seine Biographie aufzunehmen.
Am Vormittag zu Amanuel, dem Fotografen, den ich mit Dereje im Februar kennen gelernt habe, von dem die Fotos von Mbororo in Gambella stammen, die Dereje für unseren Vortrag im Juni verwendet hat, und der mit uns in Dembi Dolo gewesen ist. Er ist Oromo, sein Vater stammt aus Wollega, seine Mutter aus Illubabor. Seine Frau heißt Almaz. Er macht gelegentlich Auftragsarbeiten für Organisationen und muss dann für mehrere Tage sein Studio schließen. Christiane fragt ihn, warum er nicht Almaz als Fotografin angelernt habe. Das habe er versucht, aber sie habe zuviel Ausschuss produziert.
Grundlage von Amanuels Geschäft waren zunächst Studiolampen und Geräte, die Russen, die hier in der Derg-Zeit ein Krankenhaus betrieben, ihm dagelassen haben.
Anhand seines Fotoarchivs könnte man große Teile des Lebens in Gambella illustrieren. Es würde ein fröhliches Bild entstehen, mit vielen Hochzeiten, Badeausflügen mit Bevorzugung weiblicher Sujets, und posierenden, gut gekleideten Leuten. Ein einseitiges Bild vielleicht, aber ein notwendiger Kontrast zu den Elends-Szenarien die sonst im Zusammenhang mit Äthiopien geschildert werden.
Vor allem aber sind die Fotos auch eine visuelle Autobiographie. Man könnte, bei den Portraits seiner Eltern angefangen, sein Leben mit ihrer Hilfe aus seiner Sicht darstellen.
Bei dem ACORD-Büro, also der Verwaltung des Projektes, bei dem sowohl Christiane als auch Dereje lange tätig waren, treffen wir auch Sisai, den ich ebenfalls im Februar kennen gelernt habe. Ihn und Amanuel laden wir zum Abendessen in unser Haus bei der Mekane Yesus ein.
Weiter suchen wir einen Tamrat auf, einen Bekannten von Getinet, der hier Beamter im Civil Service Bureau ist. Getinet meint, Tamrat kenne hier sicher viele Oromo und durch ihn könnten wir einige Gesprächspartner vermittelt bekommen, die uns über die Umstände ihrer Migration und die Formen ihrer Artikulation mit der lokalen Gesellschaft erzählen könnten. Mit ihm verabreden wir uns für den nächsten Tag.
Am Abend erzählt Sisai, er sei hier in Gambella aufgewachsen. Er spricht auch Anywaa und sehr gut Majangir. Bei den Majangir war er lange in der Literacy Campaign tätig. Außerdem könne er ein wenig Nuer und natürlich Englisch und Amharisch. Die Familie seines Vaters geht auf Oromo aus Shawa und Wollega zurück, seine Mutter ist Tigre. Tigrinya spreche er aber nicht. Es gebe auch nur wenige Tigre in Gambella, aber sehr viele Oromo.
Sisai ist strikter Abstinenzler. Früher sei er ein schwerer Trinker gewesen und er wisse, dass er nicht Maß halten könne. Seit über zehn Jahren trinke er gar nicht mehr.
Amanuel kommt mit Verspätung. Als erstes holt er seine Spiegelreflexkamera heraus und macht ein Foto von uns. Mir ist schon früher aufgefallen, dass er immer nur eine sorgfältig überlegte Aufnahme macht, wo ich zwei oder dreimal abdrücken würde. Die Fotografen-Weisheit, "Das billigste am Fotografieren ist das Material und das teuerste sind die Fotos, die man nicht gemacht hat", scheint hier nicht zu gelten.
Die frühsten Kontakte zwischen Oromo und Anywaa haben, so sagt Amanuel, in den Bereichen Jagd und Handel mit Jagdbeute stattgefunden: Elfenbein, Felle.
Viele Anywaa verstehen Oromo. Auch ein junger Anywaa, der für uns gelegentlich wäscht oder Wasser holt, folgt unserem Gespräch aufmerksam.