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Max Planck Institute for Social Anthropology

Günther Schlee 2008

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Diesen alten Mann suche ich heute mit Amanuel und Getinet auf. Er heißt Guddata. Er ist nach eigenen Angaben ungefähr 80 Jahre alt und in Nek’emte geboren, wo sein Vater ein Feld bestellt hat. Zur Italiener-Zeit ist er nach Anfillo, in die Ursprungsregion seiner Familie, gekommen. Von dem Gespräch gibt es eine Video-Aufnahme in brauchbarer Tonqualität.

Nachdem diese groben Daten geklärt sind, zeigt er erste Ermüdungserscheinungen und will sehen, was wird ihm mitgebracht haben. Ich gebe ihm zehn Birr. Später gebe ich ihm nach einer weiteren Kunstpause noch einmal zehn Birr. Er beruft sich immer auf sein hohes Alter, versteht unsere Gaben an ihn also gleichzeitig als Bezahlung für seine Mühen und als einforderbare Bekundungen unseres Respekts für sein Alter.

Das Gespräch wird interessant, als er von Opferschlachtungen berichtet, die offenbar dazu dienten, Einwanderer in die Region abzusegnen. Störend sind die Zuhörer, die sich im Garten und in Hörweite auf der Straße eingefunden haben. Wie gestern sitzen wir im Freien, vor dem Haus. Er mag gemerkt haben, dass er mit der Thematik von Einwanderern und deren rituellem Status ein politisch sensitives Thema angesprochen hat und wird wieder zögerlich. Jetzt sei er endgültig müde. Er sei ja auch schon so alt. Zum Beweis seines Alters zeigt er auf seine fehlenden Zähne. Daraufhin nehme ich meinen Zahnersatz aus dem Mund und belege dadurch, dass auch ich schon ziemlich alt bin. Verwunderung und Heiterkeit stellt sich ein und wohl auch ein Element der Solidarität unter zahnlosen Alten. Das Gespräch endet nicht in schlechter Stimmung, sondern im Einverständnis, es irgendwann fortzusetzen.

Zwischendurch war Christiane zu uns gekommen. Sie hatte einige Nuer-Bauarbeiter hier aufsuchen wollen, war aber auf der Hauptstraße von einigen jungen Männern in aggressiver und aufdringlicher Weise nach unserer Berechtigung befragt worden, hier zu sein. Auch hatte sich eine große Traube Neugieriger um sie gesammelt. Sie fühlte sich bedroht und bat um das Auto und Eshetu. So war es uns ganz recht, hier früher als geplant aufzubrechen, um nachzusehen, wie es Christiane ergangen war.

Wir finden sie und Eshetu in einem Ausschank für Arake, den lokalen Schnaps. Sie ist ins Gespräch mit einem Nuer-Mann vertieft, der schon ziemlich angeheitert ist. Wegen der Ansammlung lärmender Kinder davor auf der Straße war ihr Aufenthaltsort nicht schwer zu finden. Ich bemühe mich erfolglos, die Kinder zu vertreiben, indem ich ihnen sage, hier sei kein Kino und hier gebe es nichts zu gucken. Schließlich gelingt es mir mit Hilfe eines alten Bettlers, dem ich einen Birr gebe, sie wenigstens etwas auf Distanz zu halten.

Das Gespräch findet auf Nuer statt, aber durch das Vorkommen von Eigennamen und Ortsbezeichnungen ist unschwer zu raten, dass es um die Herkunft und genealogische Zugehörigkeit der hier am Ort befindlichen Nuer-Wanderarbeiter geht. Auch nach Kirchenzugehörigkeit fragt Christiane. Peter, so heißt ihr Gesprächspartner, scheint Anhänger der NgunDeng-Kirche zu sein. Gelegentlich unterbricht er das Gespräch durch laute Gesänge, zu denen er den Rhythmus klatscht oder auf dem Tisch klopft. Die Lieder müssen bis weit auf die Straße hinaus erschallen, aber ich kann die Reaktion der Leute draußen nicht beobachten, da auch ich mich, wie Christiane zuvor, in einen Winkel gesetzt habe, der durch die offene Tür nicht einsehbar ist, um nicht durch meine exotische Hautfarbe zu einer zusätzlichen Zuschauer-Attraktion zu werden.

Der Kontrast zu der Gesprächssituation vorher bei dem alten Anfillo könnte nicht stärker sein. Wir saßen einander gegenüber, unser Gesprächspartner war misstrauisch, auf seine Stellung uns gegenüber bedacht, und außerdem stand er unter Beobachtungsdruck durch die Herumstehenden. Christiane und der Nuer-Bauarbeiter dagegen sind in dieselbe Ecke gekuschelt, es gibt viel Körperkontakt – Schulterklopfen, Schenkelklopfen, Anfassen am Arm – und die Heiterkeit nimmt kein Ende. Das Gespräch nimmt an Ergiebigkeit nur durch die fortschreitende Trunkenheit des Informanten ab, der bei der zweiten Limonadenflasche voll Arake ist. Wir anderen haben uns aus einem anderen Haus den leichteren Taj kommen lassen, denn schließlich haben wir den Tag noch vor uns.

Dieser Kontrast, abgesehen von Alter, Geschlecht und persönlichem Stil des Forschers bzw. der Forscherin, scheint durch das unterschiedliche Selbstbild unserer Gesprächspartner bedingt zu sein. Die Anfillo sind eine durch Auflösung bedrohte Minderheit, die sogar ihren angestammten Namen, "Mao", aufgegeben hat, weil der einen pejorativen Beiklang erhalten habe. Die Nuer dagegen sehen sich im Mittelpunkt des Weltgeschehens, sind in jeder Situation selbstbewusst und ungezwungen. Christiane hatte sogar erzählt, dass ihre Nuer-Bekannten vermuten, die Terrorangriffe von 11. September 2001 auf die USA seien deswegen erfolgt, weil dort jetzt so viele Nuer seien. Sie sehen den Terror also als Fortsetzung des Nord-Süd-Konfliktes im Sudan und sich selbst in bedeutender Rolle.

Die Lockerheit und Ungezwungenheit hat natürlich auch etwas Kindliches. Sie tragen ihre Emotionen auf der Haut. Auch das Misstrauen, das E.E. Evans-Pritchard und andere bei ihnen festgestellt haben (und das ja gute historische Gründe hatte), war ja wohl ein deutlich sichtbares Misstrauen, und nicht hinter Höflichkeit versteckt. Bei aller Ausgelassenheit antizipiert Peter doch Probleme mit seinem Arbeitgeber. Eigentlich sollte er jetzt auf der Baustelle sein. Christiane beschließt, es sei genug, und wir fahren weiter Richtung Dembi Dolo. Auf dem Weg liefern wir Peter auf der Baustelle ab. Als wir dem Bauleiter, einem Habasha-Mann, gegenüberstehen, fasst Peter mich mit der Rechten, Christiane mit der Linken an der Hand. Schließlich sucht er an Christianes Schulter Zuflucht. Der Bauleiter ist nicht wirklich böse oder verkneift sich seinen Ärger wegen unserer Gegenwart. Christiane hat Peter genug Geld gegeben. Er kann auf seinen Tageslohn verzichten und seinen Rausch ausschlafen.

In Dembi Dolo gehen wir ins Berhane Hotel, in dem Dereje, Amanuel und ich auch im Februar einmal genächtigt haben. Nach dem Abendessen erkunden wir noch ein wenig das Nachtleben. Die Frauen, die hier zu später Stunde servieren, sind ausschließlich auch CSWs. Die Prostitution hat hier aber weniger vulgäre Züge als mancherorts bei uns. Die Frauen werden durchaus umworben. Man tanzt eifrig miteinander. Neben recht akrobatischen Breakdance-Verschnitten sieht man sehr gute Eskissa-Bewegungen, sowohl bei den Kunden als auch bei den Serviererinnen/CWSs.

Ein angetrunkener Mann erregt sich über Amanuel, den er fälschlich für einen Amhara hält. Die bloße ethnische Zugehörigkeit kann hier also der Grund für eine Kneipenschlägerei sein. Getinet beruhigt ihn.

Ein Anderer bittet mich, mit Christiane tanzen zu dürfen. Anschließend fordert er mich auf, mitzutanzen, so wie vielfach Männer einander antanzen und sich gegenseitig in Schwung bringen. Er nennt mich "Bruder" und lobt mich. Das Lob ist vergiftet. Offenbar hält er Christiane für meine Frau, denn anschließend mokiert er sich bei Getinet darüber, dass die Ferenji ("Weißen") ihre Frauen einfach mit anderen Männern tanzen lassen. Um ihn in Verlegenheit zu bringen, gibt Getinet vor, Christiane sei nicht meine Frau, sondern seine.   

Christiane meint, es sei hier ein häufiges Muster, dass man, wenn man jemandem den Partner ausspannen will, sich gerade bei dieser Person einschmeichelt. Eine Frau versucht, die beste Freundin der Frau zu werden, der sie den Mann ausspannen will, ein Mann sucht die Nähe von demjenigen, auf dessen Frau er es abgesehen hat.

So gibt es einiges an Plänkeleien und Streit, der gefährlicher aussieht, als er ist, und oft in etwas theatralischen Versöhnungen mit ausgiebigem Händeschütteln endet. Männer buhlen um Frauen, indem sie ihre Aggressionsbereitschaft und damit ihren Wert als Beschützer unter Beweis stellen. Beschützer gegen wen? Gegen andere Männer. Aus feministischer Sicht könnte man also sagen, Männer schaffen ihre eigene Notwendigkeit.